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Paar- und Familientherapeut Henri Guttmann über kriselnde Beziehungen, Viagra fürs Wochenende, fürsorgliche Gluckenväter und verwöhnte Kinder
Nadja Pastega, Karin Kofler (Text), Sebastian Magnani (Fotos)
Ein verwinkeltes Haus, gegenüber vom Bahnhof in Winterthur. Hier hat Henri Guttmann seine psychotherapeutische Praxis. Ein Schreibtisch, bequeme Stühle um einen kleinen Tisch gruppiert. In diesem Raum ohne Psycho-Couch behandelt Guttmann seit 25 Jahren streitende Paare, entnervte Eltern und schwierige Kinder.
Herr Guttmann, bald ist Weihnachten. Läuft bei Ihnen nach den Feiertagen das Telefon heiss, weil man den Scherbenhaufen der familiären Konflikte wieder aufarbeiten muss?
Das Problem liegt darin, dass man an Weihnachten den Anspruch einer harmonischen Familie hat. Eine konfliktfreie Zone war sie aber noch nie. An Weihnachten kommen die Leute dann mit übersteigerten Erwartungen an diese Familienessen. Am meisten Anrufe habe ich aber nach den Sommerferien.Weil man sich ordentlich gezofft hat?
Ja, Paare kommen dann zu mir, weil sie sich trennen wollen, andere möchten an ihrer Beziehung arbeiten oder eine Beziehungspause machen. Wenn es ein Paar im Alltag eher schlecht, in den Ferien aber gut hat, ist das prognostisch günstig. Das heisst nämlich: Wenn sie viel Zeit miteinander verbringen, geht es ihnen gut. Im umgekehrten Fall, wenn man sich in den Ferien auf die Nerven geht, ist eine Trennung wahrscheinlicher.Was, wenn Kinder da sind?
Vielleicht bin ich ein Bünzli. Aber ich habe Mühe, wenn dann jemand schulterzuckend sagt: «Schätzli, für mich stimmt es nicht mehr, tschüss.» Man hat einen pädagogischen Auftrag entgegengenommen, die Kinder bis ins Erwachsenenleben zu begleiten. Eine Familie mit Kindern ist biografisch nicht beliebig wiederholbar. Sie ist ein wertvolles Gut. Mit Kindern hat man die ethische Verpflichtung, hinzuschauen, was in der Beziehung krummläuft.Kinder haben heute eine enorme Bedeutung: Eltern messen ihren eigenen Erfolg heute stärker am Erfolg ihres Nachwuchses als früher. Warum machen sie sich diesen Druck?
Kinder als Lebensziel, das gab es vor 40 Jahren noch nicht. Wenn Sie mich fragen, was mir am meisten bei Schweizer Familien auffällt: Die Kinder stehen im Fokus. Es geht ganz viel Liebe zu ihnen, vom Vater, von der Mutter. Es gibt aber auch die Paarebene. Sie wird oft vernachlässigt, weil die Leute das Gefühl haben, die Beziehung laufe von allein. Es reiche, wenn die Kinder glücklich sind.Und erfolgreich.
Genau. Man muss aber auch in die Paarbeziehung investieren. Wenn man das mit dem Bild eines kleinen Feuers symbolisieren will: Beide müssen immer wieder Hölzchen hinlegen, damit es auf der Paarebene warm bleibt. Wenn man das nicht tut, wird es plötzlich kalt. Wenn dann ein heisses «Öfeli» vorbeispaziert, wird es gefährlich. Man hat schnell das Gefühl, dort sei es wärmer.Mit anderen Worten: Alle Energie fliesst zu den Kinder.
Und die Paarbeziehung wird vernachlässigt. Es gibt einen klugen Satz: «Es nehmen sehr wenige Kinder Schaden, wenn es die Eltern miteinander mal lustig haben.» Dazu muss man Paarinseln pflegen. Das heisst, dass man einmal im Jahr ohne Kinder in die Ferien geht. Das bedeutet aber auch, dass man Netzwerke pflegen muss und gute Beziehungen zu Gotte, Götti und den Schwiegereltern braucht, damit man die Kinder ohne Schuldgefühle dort abgeben kann.Gehören Sie auch zu den Therapeuten, die Eltern empfehlen, Sex in die Agenda zu schreiben?
Es ist ein Mythos, dass in langjährigen Beziehungen Sexualität spontan entsteht. Das ist einfach nicht realistisch. Mit Kindern ist vieles von Alltagskram überlagert, sodass es klug sein kann, wenn man einen Liebesabend plant. Da gibt es ein paar wichtige Regeln. Man muss zum Beispiel abmachen, wer die Initiative ergreift. Derjenige ist dann verantwortlich für die «Special Effects». Wenn die Frau beim Sex AC/DC hören will, muss sie dafür sorgen, dass der MP3-Player so programmiert ist. Wenn er die grüne Bettwäsche will, muss er schauen, dass die da ist.Romantik stellt man sich eher etwas weniger durchreguliert vor.
Ich kann Ihnen sagen: Für viele Paar ist das eine Befreiung!Sie sagen: Alles dreht sich heute um den Nachwuchs. Wo stellen Sie das vor allem fest: bei Akademikern?
Das geht durch alle sozialen Schichten. Das zeigt, dass die Eltern ihren Lebenssinn daraus holen, wie es den Kindern geht. Diese ganze Ratgeberliteratur hat das noch verstärkt. Sie sagt den Eltern, dass sie ihre Kinder nonstop und möglichst früh fördern müssten, mit Frühchinesisch, Schachkursen, Ballett und Tennis. Und dass sie unter grossem Druck stehen, dass sich ihre Kinder in einer globalisierten Welt zurechtfinden.Was soll falsch daran sein, wenn Eltern versuchen, mit maximalem Einsatz ihr Kind auf eine Welt der begrenzten Karrieremöglichkeiten vorzubereiten?
Daran ist grundsätzlich nichts falsch. Es führt aber dazu, dass Eltern ihr Kind verwöhnen. Das hat schon der Psychotherapeut Alfred Adler vor über 100 Jahren herausgefunden: dass Verwöhnung die Kinder in der Eigeninitiative schwächt.Was raten Sie?
Es braucht ein Verwöhnstopp-Programm. Dazu gehört, dass Eltern überflüssige Dienstleistungen abbauen.Ein Beispiel.
Ich hatte in meiner Praxis eine Mutter von 14-jährigen Zwillingen. Ich habe sie gefragt, wie ihr Tagesablauf aussieht. Diese Frau sagte: «Ich wecke die Kinder um viertel nach sechs, dann gehe ich in die Küche und streiche ihnen Nutella-Brötchen.» – «Damit können Sie gleich aufhören», habe ich ihr gesagt. «Ab jetzt wecken sich die Buben selber. Und Teenager können sich ihre Brötchen selber streichen.»Was passierte?
Ihre Söhne haben das problemlos akzeptiert und gesagt, dass sie das mit dem Brötchenstreichen schon immer doof fanden. Eltern erbringen viele Dienstleistungen, die ihre Zielgruppe gar nicht mehr will.Machen sie das auch aus Angst, Forderungen zu stellen und sich damit beim Kind unbeliebt zu machen?
Das ist leider so. Aber Anforderungen zu stellen, ist ein wichtiger Grundsatz gegen das Verwöhnen. Man muss sich dann auch überlegen, welche Konsequenzen es hat, wenn das Kind das Aufgetragene nicht macht.Und in Kauf nehmen, dass das Kind findet, es habe die blödesten Eltern der Welt.
Ja, sonst passiert das, was mir kürzlich eine Lehrerin erzählte: Sie hatte ihre Schüler aufgefordert, dass alle das Arbeitsblatt nach vorne bringen. Eine Neunjährige in der Klasse sagte: «Du kannst es ja bei mir holen, du hast gleich weit.»Bei kleinen Kindern ist es einfach, Konsequenzen zu ziehen. Bei Teenagern hat man weniger Druckmittel.
Wenn Pubertierende über längere Zeit blöd tun – und sie können ziemlich blöd tun –, kann es klug sein, wenn man sie mal für zwei Wochen auslagert.Wohin denn? Zur Oma?
Einen solchen Fall hatte ich schon.Die wird sich bedankt haben.
Es gibt auch andere Möglichkeiten. Ein Beispiel: Ein 14-jähriger Bub trieb seine Eltern fast in den Wahnsinn. Die Mutter war Lehrerin, der Vater Sozialarbeiter. Ich habe ihnen gesagt: «Wir lagern den mal für zwei Wochen aus.» Die Familie hatte Nachbarn mit dreijährigen Zwillingen, die bereit waren, den Buben aufzunehmen. Die Dreijährigen haben ihn so genervt, dass er froh war, dass er nach zwei Wochen wieder nach Hause durfte. Eltern müssen sich abgrenzen und lernen, Nein zu sagen.Das gilt nach Ihrer Ansicht auch beim Co-Sleeping. Was ist denn so schlimm daran, wenn das Kind im Elternbett übernachtet?
Wenn Vierjährige einen bösen Traum haben und zu den Eltern gehen wollen, ist das völlig in Ordnung. Nicht gut ist, wenn sich der Vierjährige im Bett der Eltern dauerparkiert und dort einschläft. Dann wird er auf Besitzstandswahrung pochen. Ich hatte schon Fälle, wo der Vater das Feld räumte und im Kinderzimmer übernachtete.Wie bringt man den Knirps dazu, wieder aus dem Elternzimmer auszuziehen?
Ich habe das Modell «Seitenwagen» entwickelt. Wenn der Vierjährige mit seinem Bärchen kommt, kann er auf einer Matratze am Boden schlafen. Am Anfang findet er das noch lässig, bis er merkt, dass er «downgesized» ist. Er geht dann relativ schnell wieder in sein eigenes Bett zurück. Es gibt noch eine zweite Kategorie, die der 12- bis 15-Jährigen.Pubertierende Jugendliche, die bei Mama und Papa nächtigen?
Das hat zugenommen. Ich habe mal einer Mutter gesagt, wenn wir in Amerika wären, müsste ich sie anzeigen. Weil sie das Bett noch mit ihrem Sohn teilt.Was tut man einem Kind damit an?
Es wird nicht richtig erwachsen und kann die pubertäre Ablösung nicht vollziehen. Entwicklungsmässig ist das extrem ungünstig. Nachdem die Mutter klare Grenzen gesetzt hat, schläft der Jugendliche jetzt widerwillig im eigenen Bett.Heute sind viele Paare geschieden. Männer, die ihre Kinder am Wochenende betreuen, widmen sich in dieser Zeit äusserst intensiv dem Nachwuchs, eine neue Beziehung hat kaum Raum. Diese Klage hört man häufig von Frauen, die solche Gluckenväter daten. Kennen Sie dieses Phänomen?
Das kommt tatsächlich oft vor. Eine neue Beziehung einzugehen, ist definitiv viel einfacher, wenn die Kinder noch nicht in der Pubertät sind. Sie sind dann noch offen und tolerant. In der Pubertät kann man das vergessen. Was sich bewährt hat, ist das Modell «Living Apart Together»: Wenn die Kinder am Wochenende vor allem ihren Vater und nicht seine neue Freundin sehen wollen, bleibt sie zu Hause. Unter der Woche ist man mal bei ihr, mal bei ihm.Damit unterwirft man sich doch dem Diktat von pubertierenden Teenagern.
Nein, man orientiert sich am Machbaren.Mit Internet und Handy können unzufriedene Männer und Frauen jederzeit heimlich mit Dritten flirten. Das neue Phänomen heisst «Micro-Cheating». Wie gefährlich ist das wirklich?
Das sind Vorbereitungshandlungen für Fremdgehen. Es ist ein Stufenprogramm: Zuerst wird gechattet, dann wechselt man zum Mail, es kommt zum Date, zur Freundschaft, und dann landet man im Bett. Jedes Paar muss sich einigen, wie es mit Treue umgeht. Aber wenn man davon ausgeht, dass der Partner treu ist, und er fängt an herumzuchatten, muss das auf den Tisch.Wer geht eher fremd: Männer?
Frauen machen das genauso. Es kommen immer wieder Paare zu mir in die Therapie, weil sie sich in der Sexualität nicht mehr verstehen. Früher war es so, dass die Männer immer wollten. und die Frauen zogen sich zurück. Das hat sich gewandelt. Bei der Hälfte der Paare, die ein Problem mit der Sexualität haben, können oder wollen die Männer nicht mehr.Das heisst: Heute wollen Frauen mehr Sex als Männer?
Ja, das hat sich massiv verändert. Anfangs bin ich davon ausgegangen, dass Frauen besser damit klarkommen, wenn der Mann sagt, er könne nicht, als im umgekehrten Fall. Aber das ist bei weitem nicht so. Frauen sind sogar noch tougher. Die sagen: «Entweder du kriegst das in der Therapie auf die Reihe, oder ich muss dir sagen: Die Konkurrenz schläft nicht.»Autsch, das ist ziemlich brutal. Geht bei diesem Druck dann erst recht nichts?
Für Impotenz gibt es verschiedene Gründe. Es kann die Nebenwirkung eines Medikaments sein. Auch Internetpornosucht führt zu Potenzproblemen. Oder der Mann orientiert sich sexuell neu und steht nicht mehr auf Frauen. Das ist aber der seltenste Fall. Auch zu starke Verliebtheitsgefühle können impotent machen.Was kann man gegen Sexprobleme tun?
Ich erinnere mich an ein Paar, das seit einem Jahr zusammen war. Er war 33, sie 31. Die Frau hat sich sehnlichst Sex gewünscht, er eigentlich auch, aber es funktionierte nicht. Er sagte, in früheren Beziehungen habe er keine Probleme gehabt. Nach drei Sitzungen habe ich ihn zum Hausarzt geschickt, damit er sich Viagra verschreiben lässt.Ist das eine Schmach für einen Mann?
Vor allem, wenn er noch so jung ist. Er hat dann Cialis bekommen. Das nimmt man am Freitag, und die Wirkung hält bis zum Sonntagabend. Ein Weekend-Viagra kann Wunder wirken. Irgendwann sagte ihm die Frau: «Ich verwalte jetzt das Viagra für dich. Ich mische es dir in den Organensaft, aber ich sage dir nicht, wann ich das mache.» Wie sich zeigte, ging es auch ohne. Das war ein Erfolgserlebnis.So dürfte es nicht immer ausgehen. Wenn Sie nach Monaten keinen Fortschritt sehen, sagen Sie dann auch mal, dass es nichts bringt?
Ich erinnere mich an ein Paar, das ständig heftig Streit hatte. Ich versuchte zu besänftigen. Sie wollten dann selber daran arbeiten. Nach vier Jahren kamen sie wieder, und ich habe gemerkt: Die sind keinen Schritt weiter. «Ich möchte ehrlich sein», habe ich ihnen gesagt: «Ich gebe Ihnen die Adresse eines guten Mediators – er ist auch Anwalt.» -
Der Psychologe Henri Guttmann über falsch verstandene Elternliebe und wie man sie überwindet
Interview: Claudia Wirz
Herr Guttmann, darf man mit seinem Kind heutzutage noch guten Gewissens streng, böse oder fordernd sein?
Eltern, die ihren Kindern bedingungslose Elternliebe zukommen lassen, geraten leicht in die Verwöhnungsfalle. Sie haben gute Absichten und wollen nur das Beste. Aber die heutige Generation von Kindern wird sich mit Altersgenossen auf der ganzen Welt messen müssen. Wer Erfolg haben will, muss gut ausgebildet, diszipliniert und tüchtig sein. Diese Fähigkeiten muss die Erziehung den Jugendlichen mitgeben. Jugendliche wollen zwar Freiheiten haben, aber das heisst noch lange nicht, dass sie auch damit umgehen können. Es ist die Aufgabe der Eltern, den Jugendlichen die Grenzen zu setzen.Sind Eltern tendenziell zu nachgiebig?
Heutzutage würden die meisten Eltern am liebsten immer Ja sagen zu ihren Kindern, denn Ja ist das Symbol für die Liebe schlechthin. Im Praxisalltag erlebe ich häufig, dass Kinder zu viel Macht im familiären System haben und Eltern sich nicht mehr getrauen, auch einmal ein klares Nein auszusprechen. Kinder werden nicht selten als einziger Lebenssinn betrachtet. Darunter leidet nicht zuletzt die Paarbeziehung, die so marginalisiert wird.Man kann sein Kind also falsch lieben.
Wenn Eltern ihre Kinder zu sehr lieben, zeigt sich dies zum Beispiel in der Ausstattung mit zu vielen materiellen Gütern, Süssigkeiten und so weiter. Wie kommt es sonst dazu, dass bereits 20 Prozent der Kinder in einer Zürcher Schulklasse übergewichtig sind? In einer Landgemeinde fahren so viele Mütter ihre Kinder regelmässig mit dem Auto zur Schule, dass es jeden Morgen zu einem Verkehrsstau kommt. Dabei stärkt gerade die selbständige Bewältigung des Schulwegs das Selbstvertrauen eines Kindes. Häufig werden den Kindern alle Steine aus dem Weg geräumt. Doch die Steine, die wir den Kindern heute aus dem Weg räumen, werfen sie uns morgen nach!Wie äussert sich falsch verstandene Elternliebe in der Praxis?
Das Hauptproblem besteht darin, dass die Eltern ihren Kindern ein unrealistisches, falsches Weltbild vermitteln. Die Kinder erleben dann die Aussenwelt als feindselig und geraten in eine aggressive Anspruchshaltung gegenüber ihren Eltern. Damit entsteht eine unheilvolle Abhängigkeit. Jede Anforderung ist dann gleich eine Majestätsbeleidigung. Bereits 1930 befasste sich Alfred Adler eingehend mit den Funktionen der krank machenden Wirkung des verwöhnenden Erziehungsstils. Adler spricht dabei vom «verzärtelten Kind», das immerwährend die Befriedigung seiner Ansprüche durch die andern erwartet. Er spricht sogar davon, dass dies einer Kindsmisshandlung gleichkomme. Eltern geraten durch diesen Erziehungsstil nicht selten in Erschöpfungszustände und Depressionen. Entsprechend leidet das Eheleben. Übrigens leiden nur sehr wenige Kinder darunter, wenn es ihre Eltern zusammen lustig haben – ohne Kinder.Wie kommen Eltern aus der «Verwöhnungsfalle» wieder heraus?
Ich empfehle einen sanften Ausstieg mit einem Verwöhnstopp-Programm. Regel 1: Anforderungen stellen. Man sollte mit einer einzigen Anforderung beginnen, die einem wichtig erscheint. Dabei sollte man das Kind los-, aber nicht fallenlassen. Regel 2: Eltern sollten Kindern vertrauen und ihnen vieles zutrauen. Überaktive Eltern ergeben passive Kinder! Regel 3: Dienstleistung abbauen! Die häuslichen Dienstleistungen sind selbstkritisch dahingehend zu überprüfen, was das Kind schon selbständig erledigen kann. Regel 4: Nein sagen. Es gibt im Alltag drei verschiedene Nein. Das spontane Nein (wenn zum Beispiel die 12-jährige Tochter ein Zungenpiercing oder der 6-Jährige einen Elektroroller will), das verhandelbare Nein wie im Fall der Ausgangsregelung an Geburtstagen und das kategorische, nicht verhandelbare Nein, wenn die Tochter im Estrichzimmer Kerzen anzünden will oder der 14-jährige Sohn mit Kollegen allein ans Meer reisen möchte.Die Beziehung zwischen Eltern und Kind wird durch Liebe und Hierarchie geprägt. Wie kann das funktionieren?
Ein Begriff, der das gut beschreibt, ist die «elterliche Präsenz». Das bedeutet, ich stehe als Vater oder Mutter zu meiner Erziehungsrolle. Das impliziert, dass mich meine Töchter hie und da voll peinlich finden. Ich empfehle Eltern den Mut zur Peinlichkeit. Wenn Kinder zu Kumpeln der Eltern werden, lassen sie sich nichts mehr vorschreiben und gefährden sich damit selbst.Schadet zu viel Liebe der Disziplin?
Wenn Eltern ihre Sprösslinge vergöttern, erleben diese im schulischen Alltag einen Kulturschock. Die Diskrepanz zu der grenzenlosen Liebe und permanenten Aufmerksamkeit zu Hause muss im Klassenzimmer zu Problemen führen. Nicht selten haben genau diese Kinder Anpassungsprobleme und stören den Unterricht. Die Eltern erklären sich dann dieses Defizit gerne mit einer nicht erkannten Hochbegabung.Ist es normal, wenn Teenager jede Nacht im elterlichen Bett schlafen?
Kinder sollen grundsätzlich im eigenen Bett schlafen. Das heisst nicht, dass sie nicht zu den Eltern kommen dürfen, wenn sie einmal schlecht geträumt haben. Dass 11-jährige Buben immer noch im Bett der Mutter schlafen, kommt recht häufig bei alleinerziehenden Müttern vor. Nachdem der Vater ausgezogen ist, kommt bei den Teenagern dann der Irrglaube auf, sie seien jetzt der Mann im Haus. Im Streitfall lassen sie sich dann von der Mutter nichts mehr sagen. Das ist der Beginn einer unguten Entwicklung.Früher versorgte die Rekrutenschule die jungen Männer mit Drill und Disziplin und galt auch ein bisschen als «Werkstatt», um Erziehungsdefizite zu reparieren. Fehlt so etwas heute?
Heute übernimmt die Berufslehre zu einem Teil die Funktion der Werkstatt, um erzieherische Defizite auszuhebeln. Die Lehrmeister erwarten deshalb zu Recht, dass sie bei diesem pädagogischen Auftrag von den Eltern voll unterstützt werden. Jugendliche, die im Elternhaus nicht gelernt haben, eine Schwierigkeit auszuhalten, und beim ersten Problem die Flinte ins Korn werfen, sind in der heutigen Arbeitswelt deutlich benachteiligt. -
Wer Kinder verwöhnt, tut ihnen damit keinen Gefallen. Im Gegenteil, dies sei eine Form von Vernachlässigung, sagt Familientherapeut Henri Guttmann.
Coopzeitung: Was sind verwöhnte Kinder?
Henri Guttmann: Verwöhnte Kinder sind entmutigte, unglückliche Kinder, die sich gerne bedienen lassen, weil sie nicht gelernt haben, Vertrauen in ihre Fähigkeiten aufzubauen. Hinter einem verwöhnten Kind stehen meist wohlmeinende Mütter und Väter, doch genau dieses Zuviel des Guten ist letztlich eine Form von Vernachlässigung. Das Kind wird zu wenig angeleitet und erlebt kleinste Anforderungen als Majestätsbeleidigung. Verwöhnte Kinder sind das Resultat einer Erziehung, in der die Eltern nicht den Mut aufbringen, «Nein» zu sagen. Doch die Steine, welche die Eltern dem Kind aus dem Weg räumen, wirft es ihnen später nach.Wie erkennt man verwöhnte Kinder?
Bei Gleichaltrigen sind verwöhnte Kinder sehr unbeliebt. Sie sind oft «Motzer» und können Spannungen und Frustrationen schlecht aushalten. Oft versuchen sie, ihre Umgebung zu manipulieren. Ein verwöhntes Kind will sich nicht in die Gruppe integrieren. Wenn es zum Beispiel zum Essen eingeladen wird und gleich sagt, «das habe ich nicht gerne» oder an einem Geburtstagsfest nicht mitspielen will, dann sind das Zeichen von Verwöhnung.Wie unterscheidet man zwischen liebevoll Umsorgen und Verwöhnen?
Häufig tritt Verwöhnung unter dem Deckmantel der liebevollen Zuwendung auf. In Wahrheit werden damit eher die Bedürfnisse der Eltern gedeckt. So bindet zum Beispiel die Mutter dem Sohn noch schnell die Schuhe, weil sie zum Coiffeur muss. Der Vater räumt, weil er Harmonie wünscht und dadurch einem Konflikt mit der Tochter aus dem Weg geht, noch rasch ihr Zimmer auf. Liebevoll umsorgen bedeutet hingegen, dem Kind zu zeigen, dass man es lieb hat, und nicht, Verrichtungen zu übernehmen, die es eigentlich selbst erledigen sollte. Niemand hat etwas dagegen, wenn das fiebrige Kind im Elternbett schlafen darf, aber wenn es wieder gesund ist, soll es wieder im eigenen Bett einschlafen.Sind vor allem Einzelkinder verwöhnte Kinder?
Einzelkinder sind nicht verwöhnter als Kinder mit Geschwistern. Sie haben sicher mehr Aufmerksamkeit als ein Kind mit sieben Geschwistern. Doch wenn die Eltern sich gut organisieren, andere Gspänli einladen und auch mal ein anderes Kind mit in die Ferien nehmen, besteht nicht die Gefahr, dass ein Einzelkind verwöhnt und altklug wird. Hat ein Kind ein spezielles Talent, wird es auch in einer kinderreichen Familie stärker gefördert. Die Eltern von Roger Federer haben sicher nicht gleich viel Geld für die Tennisstunden der Schwester ausgegeben wie für die des Sohnes.Wie kann man Verwöhnung konkret entgegenwirken?
Ein Spurwechsel stösst nie auf frenetischen Beifall, ist aber immer lohnenswert. Mit kleinen Schritten beginnen, im Sinne von: «Das kannst du ab heute selbst übernehmen» oder «Ich traue dir das zu und unterstütze dich dabei». Leider wird das Kind oft als Lebenssinn betrachtet, was den Kindern sehr viel Macht gibt. Die Eltern müssen aber ihre Verantwortung wahrnehmen und das heisst nichts anderes als: «Ich bin gross und du bist klein». Es braucht wieder mehr elterliche Präsenz, also: «Ich bin da und nicht naiv». Und das müssen Kinder ernst nehmen.Sind verwöhnte Kinder später bessere oder schlechtere Menschen?
Verwöhnte Menschen haben durch ihre Erziehung ein unrealistisches Weltbild erfahren. Sie erleben deshalb ihre Umwelt als ungerecht und reagieren feindselig und aggressiv. Wenn sie mit Wut nicht weiter kommen, bekommen sie Depressionen und neigen zu Suchtverhalten. Menschen, die in ihrer Kindheit zu stark verwöhnt wurden, haben zudem Probleme in der Partnerschaft, weil sie nur gelernt haben zu nehmen. -
Ist die Ehe wirklich am Ende, wie es die ständig steigende Zahl von Scheidungen nahe legt?
Nein, absolut nicht. Umfragen zeigen, dass sich die meisten Menschen nach einem stabilen Zusammensein mit einem Menschen sehnen, den sie lieben können und für den sie die wichtigste Bezugsperson im Leben sind. Die meisten verliebten Paare haben irgendwann den Wunsch, sich längerfristig zu binden, und möchten dies mit einem öffentlichen Treueschwur zur gemeinsamen Liebe ausdrücken.Und wie sieht die Wirklichkeit aus?
Das Verfalldatum von Beziehungen wird immer kürzer. Wenn nur etwas für einen oder beide Partner nicht mehr stimmt, schmeisst man augenblicklich den Bettel hin, löst die Beziehung möglichst schmerzlos auf und geht innerhalb von vierzehn Tagen schon wieder die nächste Beziehung ein. Diese serielle Monogamie oder Kurzzeitpartnerschaften haben zwei grosse Haken: Die Partner vergeben sich jede Chance auf eine Weiterentwicklung Ihrer Persönlichkeit und Ihrer Beziehung und – das wiegt noch viel schwerer – am meisten leiden die Kinder, wenn welche da sind. Kinder brauchen eine gute Beziehung zu Vater und Mutter, und zwar unter einund demselben Dach. Das ist meine klare Erfahrung als Familienund Paartherapeut. Wenn es kriselt, ist es wichtig, genau hinzuschauen und frühzeitig den Fachmann beizuziehen. Häufig sind es die Frauen, die den Vorschlag für eine Paartherapie machen. Männer denken meist, das Problem löse sich von alleine, und sind dann erstaunt, wenn die Ehefrau bereits den Anwalt konsultiert hat, nachdem er sich jahrelang geweigert hat, mit auf die Eheberatung zu kommen.Dann wird heute zu früh geschieden?
Auf jeden Fall. Da wollen sich zwei Menschen aufrichtig lieben und das Leben teilen. Kommen die ersten Schwierigkeiten, wird plötzlich alles fallen gelassen, was einem bis anhin wichtig und lieb war, und nicht gefragt, wie viel Veränderungspotential überhaupt da ist und welche Chancen sich durch die Krise eröffnen. Es ist naiv zu glauben, die Ehe funktioniere ohne eigenes Zutun einfach so über Jahre hinaus. Es ist wie mit einem Paar im Ruderboot auf dem Missisippi. Um den Fluss zu überqueren, müssen immer beide Partner beständig rudern. Sobald auch nur einer aufhört, geht das Eheboot Fluss oder eben Bach abwärts.Welchen Einfluss haben hat die Konsumund Spassgesellschaft auf die Institution Ehe?
Man handhabt die Ehe wie ein materielles Konsumgut. Funktioniert etwas nicht mehr, wird entsorgt. Wie bei einem Computer, den man alle zwei bis drei Jahre erneuert. Man schaut gar nicht mehr, ob etwas repariert werden kann. Im besten Fall geht man als gute Freunde auseinander. Von einer Partnerschaft erwartet man permanentes Glück und vor allem Spass. Heute muss ja ohnehin alles Spass machen. Konflikte haben da nichts zu suchen. Mit der Realität hat das nichts zu tun. Wer solche Erwartungen an eine Partnerschaft oder eine Ehe hat, muss scheitern.Weshalb?
Sobald man es mit Menschen zu tun hat, gibt es Konflikte. Das lässt sich nicht vermeiden. Eine Paarbeziehung ist definitionsgemäss keine konfliktfreie Zone, im Gegenteil. Partnerschaft kann man nicht einfach konsumieren. Partnerschaft muss man aktiv gestalten. Wer eine Beziehung bei der kleinsten Schwierigkeit beendet, vergibt sich die Chance, sich durch die Krise hindurch auf eine neue Art lieben zu lernen. Die ewige Verliebtheit gibt es nicht!Können Sie das genauer erklären?
Was heisst denn verliebt sein? Das ist nichts anderes als sich gegenseitig zu idealisieren und zu vergöttern. Je besser sich ein Paar nach der ersten Verliebtheit kennenlernt, desto mehr kommen die Schattenseiten zum Vorschein und desto mehr nähern sich die Idealvorstellungen der Realität. Wer es nicht schafft, dieser Realität ins Auge zu sehen, bricht die Beziehung ab, weil er masslos enttäuscht ist.Bedeutet das, dass sich in einer langjährigen Beziehung automatisch die grosse Ernüchterung breit macht?
Nein. Auch in einer langjährigen Beziehung ist Verliebtheit möglich und wünschenswert. Wenn ein Partner den anderen überhaupt nicht toll findet, wird es schwierig, eine Beziehung am Leben zu erhalten. Eine gewisse Idealisierung braucht es. Aber sie basiert auf einer realen Grundlage. Das Geheimnis einer funktionierten Partnerschaft besteht unter anderem darin, die Verliebtheit am Anfang der Beziehung wie eine Art Anker für Krisenzeiten zu bewahren, auf den man setzen kann, wenn es mal schlecht geht, und diese Verliebtheit in eine wahre Liebe überzuführen, die als Glück und vertraute Geborgenheit wahrgenommen wird. Doch dieser Zustand kommt nicht von alleine. Dazu braucht es zwei Menschen, die immer wieder bereit sind, Holz auf das gemeinsame Liebesfeuer zu legen.Gibt es noch andere Rezepte für eine gute, langjährige Partnerschaft?
Wichtig ist, dass man den Ausgleich sucht zwischen Nähe und Distanz. Ist zu viel Nähe da, kommt es oft zum Streit. Gehen beide auf zu viel Distanz, entfremdet man sich. Dann hat sich gezeigt, dass Paare, die ähnliche Werte im Leben haben, länger zusammenhalten. Dasselbe gilt für die Eigenständigkeit und Autonomie. Wer eigene Freundschaften weiterpflegt und nicht symbiotisch vom Partner abhängt, hat bessere Chancen auf eine gute, bleibende Partnerschaft. 80 Prozent der Männer haben nach vier Ehejahren keine eigenen Freunde mehr. Weiter braucht es in jeder Beziehung ein ausgeglichenes Wechselspiel von Geben und Nehmen. Meistens besteht jedoch ein Ungleichgewicht. Frauen beispielsweise beklagen sich, sie müssten den ganzen Karren zu Hause alleine ziehen. Und die Männer jammern, sie müssten in Sachen Sex immer die Initiative übernehmen. Über solche Dinge muss man reden, sie miteinander verhandeln und kooperieren. Entscheidend für das Zusammenleben sind auch ganz praktische Dinge: Wie schafft es ein Paar, sich im Alltag zu organisieren? Ist das jedes Mal ein Drama oder geht das locker vom Hocker? Weitere Punkte: Sieht man immer nur das Negative und nicht das Positive? Hat ein Paar die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und sich für den anderen zu interessieren. Haben die zwei gemeinsame Perspektiven und Visionen, ein gemeinsames Drittes, wie wir sagen?Was meinen Sie damit?
Irgendwann reicht die Symbiose der beiden Partner nicht mehr. Da braucht es etwas anderes, neues, das die beiden verbindet. Bei vielen ist das gemeinsame Dritte ein Kind. Bei anderen ein Hobby, ein Haus. Achtung: Wenn es gebaut ist, muss man dieses gemeinsame Dritte dann schon wieder neu definieren. Vielleicht sind es dann eben die Enkelkinder.Kommen wir nochmals zurück auf die vielen gescheiterten Ehen. Gibt es noch andere Gründe als Konsumhaltung und übersteigerte Erwartungen?
Ein weiterer Hauptgrund aus meiner Sicht ist der: Viele Paare definieren die Kindererziehung als absoluten Lebensmittelpunkt, sobald sie Eltern werden. Die Kinder sind dann der Lebensinhalt. Mit der Konsequenz, dass die Liebesbeziehung zum Partner schleichend vernachlässigt wird. Ich sage deshalb immer: die Paarbeziehung kommt vor der Elternbeziehung! Nur sehr wenig Kinder erleiden psychischen schaden, wenn es die Eltern zusammen gut haben. Eltern brauchen regelmässige Paar-Inseln. Ich meine damit regelmässige Paargespräche von circa einer Viertelstunde Dauer, damit sich beide ungestört austauschen können. Es ist das Grundprinzip der Selbstoffenbarung: Wie geht es Dir? Wie geht es mir? Jeder hat ein Zeitfenster von sechs Minuten, um zu erzählen, was ihn an diesem Tag gerade beschäftigt hat. Der andere hört aufmerksam zu und – das ist sehr wichtig – fasst kurz zusammen, was er gehört hat. In der Kommunikation deckt sich das, was einer sagt und das, was der andere versteht, nur zu circa 14 Prozent. Das ist sehr wenig! Wenn man weiss, dass das durchschnittliche Schweizer Ehepaar lediglich sieben Minuten am Tag miteinander spricht, muss man sich nicht wundern, dass sich die Paare auseinander leben.Ist es wirklich notwendig, Gespräche mit der Stoppuhr zu führen?
Mit der Stoppuhr sicher nicht. Aber man muss sich die Zeit dazu wirklich nehmen. Mit man meine ich vor allem den Mann. Es sind vor allem die Männer, die kaum reden. Aus irgendeinem Grund haben sie das Gefühl, was sie erleben, sei für die Partnerin nicht interessant. Lieber verschliessen sie sich zu Hause. Auch der so genannt neue Mann ist so sprachlos wie der alte. Wenn sie wüssten, dass es die Frauen enorm sexy finden, wenn sie endlich beginnen zu reden, würden sie noch heute damit loslegen! Man kann abends zusammensitzen bei einem Glas Wein oder einer Tasse Tee. Nach Abschluss der Paarinsel kann jeder wieder seiner gewohnten Tätigkeit nachgehen. Auf keinen Fall darf die Paarinsel zu einem täglichen Openend-Gefühlspalaver ausarten.Welchen Einfluss hat die Geschichte auf die heute noch herrschenden romantischen Vorstellungen über die Ehe?
Die Vorstellung von der romantischen Ehe wird bereits früh geprägt. So wissen neunjährige Mädchen mit erstaunlicher Sicherheit, dass sie später einmal in einem weissen Kleid mit drei Meter langer Schleppe heiraten wollen. Für das romantische Liebeskonzept, von dem unsere Vorstellungen von Ehe stark geprägt wurden, sind im 18. Jahrhundert die Weichen gestellt worden. Über Jahrhunderte hinweg war die Familiengründung ein wirtschaftlicher Zweckverbund. Ökonomische Interessen waren für die Eheschliessung ausschlaggebend. Emotionale und sexuelle Harmonie der Ehepartner waren im Haushalt von mehreren Generationen und Bedienten unter einem Dach nicht von Wichtigkeit.Was darf man heute realistischerweise von einer Ehe erwarten?
Während man zum Auto fahren eine Fahrprüfung ablegen und vorher noch Kurse in erster Hilfe und Theorie bestehen muss, kann jeder ohne Vorkenntnisse eine Ehe eingehen und Kinder in die Welt setzen. In einem US-Staat hat man Heiratswilligen, die einen Ehevorbereitungskurs absolviert haben, die Gebühren für das Standesamt erlassen. Der Erfolg war durchschlagend. Die Scheidungsraten sind massiv zurückgegangen, auch weil einige Paar merkten, dass sie gar nicht zusammen passen und sich beim Amt wieder abgemeldet haben. Wieso führen wir nicht bei uns etwas ähnliches ein. Bereits vier Abendkurse würden vielen Paaren helfen, ihre Vorstellungen über die Ehe in ein anderes Licht zu rücken. Als Paartherapeut fällt mir auf, dass die Erwartungen von Mann und Frau an die Ehe sehr unterschiedlich sind. Durch die wachsende Individualisierung der Frau wird sie immer weniger jene Beziehungsmuster akzeptieren, die Generationen vorher praktizierten, nämlich die Anpassung an den Mann unter Preisgabe der eigenen Erwartungen und Wünsche. Heute haben beide Partner ein Mitspracherecht und damit die Chance, eigene Rechte und Interessen einzubringen. Der Zeitgeist geht immer mehr in die Richtung, dass zwei Mensche mit ihren eigenen Erwartungen, Wünschen und Neigungen einen gemeinsamen Weg finden müssen, was wiederum mehr Anlass zu Uneinigkeit gibt und daher den Bedarf an Kommunikation und Verhandeln erhöht. In einer Beziehung braucht es ein Gleichgewicht von Einfluss nehmen und sich beeinflussen lassen. Wenn einer der Partner das Gefühl hat, seine Meinung sei gar nicht gefragt, führt das über kurz oder lang zu einem grossen Ungleichgewicht.Wie geht man mit Verletzungen um?
Dass man sich in einer Beziehung hin und wieder verletzt, lässt sich nicht vermeiden. Wichtig ist, dass man lernt, Verletzungen wieder gut zu machen. Erster Punkt: Wer verletzt wurde, muss dies melden! Zweitens: Der, welcher verletzt hat, muss dies eingestehen und sich dafür entschuldigen. Drittens: Der Verletzte muss sich überlegen, wie der Verletzer das wieder gut machen kann. Erst wenn er das geleistet hat, ist der Ausgleich wieder vorhanden. Dann kommt aber Punkt vier: Wenn der Ausgleich wieder hergestellt wurde, muss der, welcher verletzt wurde, seine Verletzung los lassen und nicht irgendwann wieder hervorholen. Die meisten Paare bringen alte Verletzungen mit, die nie angesprochen und wieder in Ordnung gebracht wurden. Das muss auf den Tisch und verhandelt werden.Sie sprechen gerne von der Fairnessbilanz. Was meinen Sie damit?
In jeder Ehe kommt es von Zeit zu Zeit zu einem Ungleichgewicht von Geben und Nehmen. Derjenige, der das zuerst bemerkt, soll das in einer Art Fairness-Bilanz ansprechen. Warum muss ich immer den Karton zusammenbinden und ihn entsorgen? Weshalb muss ich immer Deine Mutter im Altersheim besuchen? Wieso organisierst nicht Du die Ferien oder übernimmst mal den Elternabend? Warum muss ich immer derjenige sein der den Sex anfangen muss? An der Fairnessbilanz werden genau diese eingefahrenen Rollenbilder neu verteilt. Das belebt die Liebe ungemein.Wie ist es möglich, in einer sexuell enthemmten Gesellschaft einem Partner zeitlebens treu zu sein?
Am treusten sind Paare, die ihre Partnerschaft als glücklich beschreiben und wenig Gelegenheit haben, Menschen des anderen Geschlechts kennen zu lernen. Sexualität lebt von zwei sich widersprechenden Aspekten. Einerseits von Vertrauen und Vertrautem und andererseits vom Kick des Neuen. Hier haben es Paare, denen es gelingt, ihre Sexualität immer wieder neu zu gestalten und Abwechslung hinein zu bringen, leichter, sich treu zu sein. Noch etwas: Wir sollten endlich Abschied nehmen vom Mythos der spontanen Sexualität. Das geht in der heutigen Zeit mit der starken beruflichen Belastung der Partner kaum noch. Und schon gar nicht, wenn man Kinder hat. Befreien wir uns von diesem Mythos und planen wir mindestens einmal in der Woche einen Liebesabend oder von mir aus einen Liebesmorgen ein. Machen wir dabei genau ab, wer die Initiative ergreift und den Ablauf, die Musik, die Specialeffects etc bestimmt. Ich sage bewusst Liebes-, und nicht unbedingt Sexabend. -
Von: Lena Sorg
Vergleicht eine Partnerschaft mit einem Feuer, das regelmässig mit Holz versorgt werden muss: der Winterthurer Paartherapeut Henri Guttmann. Bild: les.
Henri Guttmann weiss, was es braucht, um eine glücklich e Beziehung zu führen. Der Winterthurer Paarberater leitet am «PaarImPulsTag» im September einen Workshop.
Ihr Workshop dreht sich um die Geheimnisse einer glücklichen Paarbeziehung. Verraten Sie uns Ihr Geheimnis?
Henri Guttmann: Die Paarbeziehung ist wie ein Feuer, bei dem immer beide Partner Holz dazugeben müssen. Was ich in meiner Paarberatung erlebe, ist, dass die Leute ganz viel Liebe ihren Kindern schenken und die Liebe auf der Paarebene fast verloren geht. Dort muss man aber auch investieren, denn sonst wird es an dem Feuer kalt. Das ist zwar an sich noch nicht unbedingt ein Problem, aber wenn dann ein anderer kleiner Ofen bei einem der Partner vorbeikommt, ist es dort dann schnell einmal wärmer als beim Feuer.Wie kann ich Holz zum Feuer geben?
Vielen Beziehungen mangelt es an gemeinsamer Zeit. Eine Partnerschaft braucht immer wieder Zeitinseln, um aufzutanken. Wenn ich in einem Vortrag frage, wer mindestens eine Woche im Jahr ohne Kinder in die Ferien geht, dann sind das von 80 Leuten nur drei, die aufstrecken.Eine Woche Ferien ohne Kinder ist also etwas, das man für die Beziehung tun kann.
Das ist das Minimum. Es bedeutet aber auch, dass jedes Paar ein soziales Netz um sich herum braucht. Man braucht eine gute Beziehung zu den Schwiegereltern, Gotti und Götti, damit diese auch mal auf die Kinder aufpassen. Die Paarbeziehung lebt also vom Pflegen der Kommunikation untereinander und vom Pflegen der Kommunikation mit dem Helfernetz rundherum. Das Modell der Kleinfamilie ohne Helfernetz ist zum Scheitern verurteilt.Welche Rolle spielt die Sexualität in einer Beziehung?
Ich sage es mal so: Wenn sie funktioniert, macht die Sexualität etwa 5 Prozent der Beziehung aus. Wenn sie nicht funktioniert, sind es automatisch 95 Prozent. Wenn die Sexualität nicht stattfindet, bekommt sie ein enormes Gewicht.An welchen Problemen stehen die meisten Paare an?
Ein häufiger Punkt ist, dass es immer wieder ein Ungleichgewicht gibt in der Beziehung. Die Männer können zum Beispiel nicht stillen. Das gibt ein Ungleichgewicht, denn wenn das Baby schreit, will es vor allem die Mutter. Später, wenn es aus dem Schoppen trinkt, kann der Vater aber auch mal aufstehen. Man muss hin und wieder anschauen, wie die Lasten verteilt sind, und ob das für beide Partner stimmt. Es ist schnell passiert, dass zum Beispiel immer derselbe die Küche aufräumt am Abend.Wann sollten die Alarmglocken in einer Beziehung läuten?
Die Alarmglocken läuten, wenn einer der beiden Partner merkt, dass es für ihn nicht mehr stimmt. Je früher man merkt, dass es in eine falsche Richtung läuft, und dies auch sagt, desto besser.Weshalb scheitern so viele Beziehungen?
Wenn die Leute heiraten, meinen sie, eine Paarbeziehung sei ähnlich belastbar wie die Eltern-Kind-Beziehung. Sie glauben, sie können sich in einer Paarbeziehung fast alles erlauben, wie im Elternhaus, in dem sie aufgewachsen sind. Aber die Paarbeziehung ist nicht beliebig belastbar wie die Eltern-Kind-Beziehung, und das ist auch gut so.Was meinen Sie mit fast alles erlauben?
Mit der Ablösung von den Eltern ist häufig ein schmerzhafter Prozess verbunden mit vielen Kränkungen und Verletzungen. Trotzdem bleiben die Eltern weiterhin in Beziehung zu den Kindern. Verhält sich aber ein Partner gleich verletzend, wie er es aus seinem Elternhaus gewohnt war, dann macht das die Partnerin häufig nicht mit. -
Viele Eltern fürchten die Pubertät wie ein Schreckgespenst. Mit klaren Regeln, Grenzen und Humor überstehe man diese schwierige Phase besser, sagte Familientherapeut Henri Guttmann in Rutschwil. Er gab auch Tipps.
dägerlen – Die Zeit der Pubertät sei eine clevere Einrichtung der Evolutionsgeschichte der Menschheit. «Sie ist anstrengend, hat aber ihren Sinn.» Henri Guttmann (Bild) referierte im Schulhaus in Rutschwil auf Einladung des Elternforums von Dägerlen. Sein Thema: «Nervenprobe Pubertät».
Der Winterthurer Psychologe, Paar- und Familientherapeut erklärte auf eingängige, fröhliche Art und Weise, dass der freche Jugendliche frech sein muss. «Die Pubertät ist eine Zeit der Ablösung, eine Phase, in welcher Jugendliche sexuell aktiv werden und beginnen, ausserhalb der Familie mögliche Paarungspartner zu suchen.» Der Ablösungsprozess, die Veränderungen der Kinder, sei für die Eltern keine einfache Zeitspanne.Gefühle dürfen schwanken
Henri Guttmann reicherte seine Ausführungen am Montagabend mit Szenen aus seinem eigenen Vaterdasein und mit Erlebnissen aus seiner langjährigen beruflichen Erfahrung an. «Die jungen Menschen brauchen die Gefühlsschwankungen zwischen Grössenfantasien und Alltagsrealität.» Dank dieser Stimmungen könnten sie überhaupt erst ihre Visionen für ihr eigenes Leben kreieren.
Guttmann räumte gegenüber den anwesenden Eltern ein: «Klar, diese Schwankungen sind für das Umfeld schwierig auszuhalten.» Der Familientherapeut riet aber dazu, sie zu ertragen und die exotischen Gedankengänge mitzutragen. «Sie haben ihren Sinn.»Mut zur Peinlichkeit
Die Pubertät verlange neue Regeln und Grenzen. Aus dem süssen Kind sei plötzlich ein rebellischer junger Mensch geworden. Dieser habe Wünsche, müsse experimentieren und Grenzen auskosten. «Lernen Sie, Nein zu sagen, und seien Sie nicht inkonsequent», empfahl der Psychologe und Vater von zwei Töchtern. Dies, damit nicht aus einem Nein ein «Jein» und schliesslich daraus ein Ja werde. Er appelliert auch an den Mut zur Peinlichkeit. «Fragen Sie Ihr Kind, mit wem es wohin unterwegs ist. Und erlauben Sie sich auch, in gewissen Situationen bei anderen Eltern nachzufragen.»
Für die Kinder sei es wichtig, dass die Haltung der Eltern klar sei. «Dies fördert die Glaubwürdigkeit und auch das Vertrauen der jungen Rebellen in sich und das Elternhaus.» Jugendliche hätten nicht die Erwartung, dass ihre Eltern perfekt seien.
In der Veränderungsphase würden sich die Jugendlichen gegenüber den Eltern verschliessen. «Das geht dich nichts an – das ist mein Leben», sei von ihnen immer wieder zu hören. Für Guttmann befinden sich die Pubertierenden während ihres Veränderungsprozesses in einer verschlossenen Muschel. «Diese öffnet sich aber immer wieder.» Es handle sich bei dieser Öffnung um ein «Beziehungsfenster». In solchen Momenten wolle das Kind mit seinen Eltern in Kontakt treten, Nähe spüren und erzählen.Beziehungsfenster nutzen
Die Beziehungsfenster gingen plötzlich, beinahe unkontrolliert, auf. «Solche Momente müssen Sie nutzen. Es sind grosse Chancen für Sie und Ihr Kind», weiss der Fachmann. Wenn die Muschel offen sei, müsse der Moment sofort ausgekostet werden. «Die Koteletts in der Pfanne und die Rösti müssen warten – geniessen Sie solche Phasen der Offenheit und der selten gewordenen Nähe.» l BRIGITT HUNZIKER -
In Aeschbis Talkshow drehte sich gestern alles um Verführungen. Gast war der Paartherapeut Henri Guttmann, der ein ziemlich spezielles Kartenspiel erfunden hat. «Eigentlich ist das ja etwas für Monika Fasnacht», witzelte Kurt Aeschbacher (61) zuerst. Dann erklärte Guttmann das Spiel, das die Karten in einer eingeschlafenen Beziehung neu mischen soll. «Ziel ist es zu lernen, sexuelle Wünsche zu kommunizieren. Es geht darum, fremd zu gehen – mit dem eigenen Partner», sagt er.
«Auf jeder der insgesamt 78 Karten des Spiels stehen heimliche Wünsche, die Sie sich nie getrauen würden, auszusprechen», erklärt der Paartherapeut dem SF-Talker. Aeschbi zieht eine Karte und liest «seinen» Wunsch vor: «Du ziehst deinen Slip aus und steckst ihn mir in die Tasche.» Jetzt ist der Partner an der Reihe – dessen Rolle im Studio der Therapeut einnimmt. Er muss entscheiden, ob er den Wunsch erfüllt. Und falls ja: wann, wo und wie. Das zieht sich in die Länge, aber «Erotik lebt von der Verzögerung – das gibt Spannung», erklärt Guttmann.
Nach und nach werden die Antwortkarten aufgedeckt. Es stellt sich heraus, dass sich der Spielpartner «wortlos» vom Höschen getrennt hätte. Es wäre «im Auto» passiert. Und wann würde er es machen? «Lass dich mal überraschen», ist auf einer weiteren Karte zu lesen.
Was hält Aeschbi vor solchen Erotikspielen mit Kärtchen? «Es wäre schön, wenn wir da ein paar Anregungen für nach der Sendung geben konnten», sagt der Nachttalker. So ein Spiel hilft sicher, dass man lernt, Fantasien auszusprechen.» Würde er es denn selber spielen? «Warum nicht?», sagt Aeschbi zu Blick.ch. «Ich würde darüber lachen und dann sagen: Komm, jetzt machen wir es aber auch!»
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ILLNAU-EFFRETIKON Patchwork-Familien seien komplexe Systeme, so Henri Guttmann. Nächsten Donnerstag vermit-telt der Therapeut Tipps, wie man Klippen umschiffen kann.
Till Hiemer
Patchwork-Familie ist nicht gleich Patchwork-Familie. Mit 36 Prozent am häufigsten ist die Stiefvaterfamilie. Daneben gibt es das Pendant mit Stiefmutter sowie komplett neu zusammengesetzte Familien, bei denen beide Partner ihren eigenen Nachwuchs mitbringen. «Aus Sicht der Erwachsenen ist die neue Situation ein Gewinn – aus der des Kindes aber oft ein Verlust», so Henri Guttmann. Dieses empfinde den neuen Partner der Mutter oder des Vaters häufig als Rivalen. «Je jünger die Kinder sind, desto einfacher ist in der Regel die neue Konstellation zu handhaben», so der 56-Jährige.
Nicht zu pädagogisch auftreten
Eminent wichtig sei, dass sich der «Eindringling» nicht sofort mit pädagogischen Tipps aufspiele. «Der oder die ‹Neue› soll sich am Anfang darauf konzentrieren, mit jedem einzelnen Familienmitglied Freundschaft zu schliessen», betont Guttmann. Der Schlüsselsatz in seinen Referaten laute jeweils «Paarbeziehung kommt vor Elternbeziehung». Das töne brutal – aber: «Normalerweise hat ein Paar mindestens neun Monate Zeit, sich in Ruhe kennen zu lernen – in einer Patchwork-Familie fällt dies weg.» Deshalb bräuchten die Partner regelmässig Phasen, in denen sie nur zu zweit seien. Oft werde der neue Partner von den Stiefkindern beschimpft. Dann sei der Gedanke «Habe ich das nötig?» schnell da – und der Partner ebenso schnell weg.
Gibt es Vorteile in einer Patchwork-Familie? «Die Kinder lernen sich in verschiedenen Modellen zu bewegen. Das kann später nützlich sein», so der Familientherapeut. -
Psychotherapeut Henri Guttmann (56) behandelt in seiner Winterthurer Praxis seit 20 Jahren Menschen mit Liebeskummer. Was man dagegen tun kann und was man besser bleiben lässt.
Henri Guttmann, Liebeskummer ist schrecklich. Wie lange hält er in der Regel an?
Die ersten drei Wochen sind die schlimmsten, danach sollte es besser werden. Wenn Liebeskummer länger als drei Monate andauert, braucht es fachliche Hilfe. Meistens rei-chen drei, vier Gespräche über eine gewisse Zeitperiode. Die grosse Mehrheit aber schafft es alleine – mit ein wenig Hilfe von Freunden.
Was ist das Schlimmste am Liebeskummer?
Den Leuten wird regelrecht der Boden unter den Füssen weggezogen. Sie werden einfach stehen gelassen mit ihren Liebesgefühlen. Und das Schlimmste ist zu realisieren, dass der geliebte Partner den Schmerz um die verlorene Beziehung nicht erlebt, dass es ihm gut geht. Besonders hart trifft es oft Jugendliche. Für sie ist es das erste Mal, sie haben die Erfahrung noch nicht gemacht, dass das auch wieder vorbeigeht.
Was kann man gegen Liebeskummer tun?
Einiges. Sich mit Freunden treffen und umgeben, die einem guttun. Aber dann nicht den ganzen Abend lang übers eigene Leid reden, das interessiert sie schnell nicht mehr. Sich selbst Gutes tun, zum Beispiel gut essen, aber aufpassen mit Alkohol und Medikamenten. Nicht von sich verlangen, dass der Kummer sofort vorbeigeht; es braucht seine Zeit, genauso wie bei einem Beinbruch. Auch wichtig: Fotos vom Ex-Partner wegräumen und im Keller einlagern.Was ist besser: Ablenkung oder Auseinandersetzung?
Ablenkung, ganz klar, gerade am Anfang. Sich im Thema zu suhlen, ist wenig hilfreich.
Das Migros-Magazin hat auf seinen Aufruf erstaunlich viele Zuschriften erhalten. Wirkt das Schreiben auch therapeutisch?
Absolut. Viele Leute haben das Bedürfnis zu erzählen, dass es ihnen schlecht geht, und zu hören, dass andere etwas Ähnliches erleben.
Gibt es Menschen, die vor Liebeskummer gefeit sind? Wer sich auf das Wagnis der Liebe einlässt, hat auch irgendwann einmal Liebeskummer. Das ist ein ganz normaler, gesunder Trauerprozess, durch den man durch muss.
Leiden Frauen anders als Männer?
Ja, Männer leiden stärker, weil sie häufig weniger Zugang zu ihren Gefühlen haben. Frauen können auch mal heulen und sich von ihren Freundinnen umarmen lassen.
Männer verlassen ihre Frauen oft wegen anderer Frauen. Umgekehrt scheint das weniger zu passieren.
Das ist richtig. Frauen verlas-sen Männer häufig, wenn sie glauben, mit diesem Menschen längerfristig keine Zukunft mehr zu haben. Männer verlassen Frauen häufig, wenn sie das Gefühl haben, ihre Sehnsucht nach Bewunderung – oder ihre sexuellen Wünsche – würde zu wenig gewichtet.
Interview Ralf Kaminski -
Von elterlichen Nöten mit ihren halberwachsenen Kindern.
Claudia Wirz. Es ist ein kleines Grüppchen von vielleicht zwanzig Leuten, das sich an diesem kalten Winterabend in einem Säli in Winterthur versammelt hat. Man kennt sich nicht, trotzdem hat man etwas gemeinsam. Diese Versammlung ist eine Zusammenkunft von Leidgeprüften. Alle, die sich hier eingefunden haben, sind Eltern von pubertierenden Kindern, und alle scheinen verunsichert, erschöpft und auf der Suche nach Antworten auf die unzähligen Probleme, die ihnen ihre Sprösslinge bereiten.
Eine Wundertüte
Der Inhalt der Veranstaltung lässt sie hoffen – denn für ein Eintrittsgeld von 20 Franken wird hier nichts Geringeres als der «Pubertätsüberlebenskoffer», kurz PÜK genannt, angeboten. Blickt man in die erwartungsvolle Runde, könnte man meinen, manch einer wünschte sich, dass der PÜK ein veritabler Zauberkoffer mit allerlei magischen Kräften sei. Oder dass sich darin zumindest eine Zauberflöte oder ein Glockenspiel finden liesse, welche wie in Mozarts Oper selbst die wildesten Bestien anmutig tanzen liesse.
Der Besitzer dieses Koffers ist aber durchaus ein bisschen ein Zauberer. Zumindest versteht es Henri Guttmann, Psychologe und Familientherapeut, seinen Überlebenskoffer mit einigem dramaturgischen Geschick Stückchen für Stückchen zu öffnen, ohne dabei alle Geheimnisse preiszugeben. Eine Mutter, die fragt, ob die gezeigten Folien nach dem Vortrag abgegeben werden, vertröstet der Psychologe. Das Wichtige werde schon ganz von allein hängen bleiben, meint er. Wohl dem, der sich – nicht mit einem fotografischen Gedächtnis ausgestattet – auf das Anfertigen von Notizen vorbereitet hat!
Gepackt ist der PÜK mit allerlei Erfahrungen aus Guttmanns langjähriger Tätigkeit. Der Psychologe ist ein Erzähler, und deshalb geizt er nicht mit hübschen Beispielen aus seiner Praxis. So schildert er die kleine Geschichte von dem Jüngling, der im Dachstock seines schönen Zuhauses eine kleine Bombe bastelte, während die Mutter unten in der Küche arglos das Abendessen zubereitete. Glücklicherweise wurde der Bombenbastler vom kleinen Bruder rechtzeitig entdeckt, so dass später nur das Gartenchemine ́e und nicht das Hausdach in die Luft flog. Das Chemine ́esolltealsmahnendesAnschauungsbeispiel herhalten. Immer wieder, sagt der Referent, treffe er in seiner Praxis Bürschlein an, die ausgesprochen gerne Bomben bauen.
Guttmann erzählt von den jugendlichen Grössenphantasien, in welchen sich Knaben als Pilot, als Formel-1-Fahrer oder als Bankdirektor mit dickem Bonus sehen – und dabei die schlechten Noten in ihrem Zeugnis vollständig ausblenden. Oder von Mädchen, die sich vorgenommen haben, besonders wählerische Schauspielerinnen zu werden.
Ein wahrer Trost sind diese Geschichten für die geplagten Zuhörenden. Es wird herzhaft gelacht. Solange es nicht die eigene oder die der eigenen Kinder oder Nachbarskinder ist, hat die Pubertätsphase durchaus ihr komödiantisches Potenzial. Und es wird unzweifelhaft klar, dass Probleme mit pubertierenden Kindern eigentlich etwas ganz Normales sind.
Noch mehr Trost bietet schliesslich die Erklärung all dessen. Der Psychologe argumentiert entwicklungsbiologisch. Es dürfe von Natur aus nicht sein, sagt er, dass sich adoleszente Söhne massenweise in ihre Mütter und ebensolche Töchter in ihre Väter verliebten. Für den gesunden Fortbestand der Menschheit muss der künftige Sexualpartner ausserhalb der Familie gesucht werden. Deshalb kommt der Psychologe zum Schluss: Wenn Kinder ihre Eltern plötzlich doof finden, leisten sie damit einen Beitrag zum Überleben der Menschheit.
Wehe dem Moralapostel
Der PÜK gibt im Laufe der Veranstaltung eine Reihe von Tipps über den Umgang mit pubertierenden Söhnen und Töchtern preis. Man solle den Jugendlichen ihre Grössenphantasien ruhig belassen, meint der Referent, und sie nach Möglichkeit gar als Leistungsantrieb nutzen. Eine Anpassung an die Realität werde unweigerlich erfolgen und die Jugendlichen wieder auf den Boden der Tatsachen bringen. Eine zentrale Rolle spielen dabei neue Bezugsund Autoritätspersonen wie der Lehrmeister.
Und noch eine Lektion lernen die Eltern: Moralapostel kommen nicht gut an. Wer seine Werte und Wünsche hingegen glaubwürdig vorlebt, hat bessere Karten. «Am schlimmsten sind Eltern, die für alles Verständnis haben», zitiert Guttmann einen berühmten Kollegen seiner Zunft (Allan Guggenbühl). Man schmunzelt im Säli. Und Apropos Wünsche: Sie solle man nicht nur zulassen, sondern gezielt zum Einfordern von Gegenleistungen einsetzen.
UndsodürfensichdieZuhörenden eigentlich ganz entspannen. Denn eine Einsicht nach dem Auspacken des Überlebenskoffers dürfte sein, dass man auch bei Pubertierenden mit dem vielgerühmten «gesunden Menschen-verstand» am weitesten kommt. Und eine zweite verspricht noch viel mehr: Alles wird besser! Die Pubertätsphase geht sowieso vorbei und nicht nur das: Es geht auch mit der Paarbeziehung wieder aufwärts. Es gilt nämlich als erwiesen, dass Eheleute während der Pubertät ihres Nachwuchses am unglücklichsten sind. Sobald die Kinder aber aus dem Haus sind, steigt die Ehezufriedenheit an und erreicht bald wieder jene Höhen, die die Eheleute erlebten, bevor die Kinder kamen. Am glücklichsten sind Paare statistisch gesehen nämlich dann, wenn sie keine Kinder haben. -
Was hält eine Beziehung stabil und lebendig? Viele leben sie. Für viele ist sie reines Glück, für andere kann sie im Laufe der Jahre zu einer echten Qual werden. Doch was verbirgt sich hinter dieser Lebensform wirklich? Und vor allem, wie schaffen wir es, unsere Paarbeziehung glücklich, leben- dig und stabil zu halten, trotz Stress, Arbeit, Kinder und Haushalt? Der Schweizer Familien- und Paartherapeut Henri Guttmann kennt viele Tipps, wie man das Feuer der ewigen Liebe so gut wie möglich am Brennen hält. Interview Sylvia Mathis Foto Sylvia Mathis, Shutterstock, ZVG
Was ist eigentlich eine Paarbeziehung? Was zeichnet sie aus?
Henri Guttmann: Am besten stellt man sich zwei Menschen vor, die auf einem Fluss vom einen Ufer an das andere Ufer rudern wollen. Nur wenn beide beständig rudern, haben sie eine Chance, ans andere Ufer zu kommen, sonst driften sie ab und landen z.B. im Rheinfall. Eine Paarbeziehung bedeutet ein beständiges Investieren in das gemeinsame Projekt Liebe. Am Anfang einer Paarbeziehung geht das im Zustand der Verliebtheit automatisch, mit den Jahren müssen beide bewusst die Partnerschaft pflegen, damit sie stabil bleibt.
Ewigi Liebi, gibt es die überhaupt?
Ja, natürlich! Es gibt viele Paare, die sich als sehr glücklich bezeichnen. Aber wie bei einem Feuerchen, es bleibt nur warm, wenn beide Hölzchen hineinlegen. Leider werden viele Paare mit den Jahren bequem und lassen ihre Beziehung kühl werden. Dann ist die Gefahr, dass ein anderer heisser Ofen vorbeikommt und besser wärmt, natürlich gross.
Was halten Sie von Internetplattformen als Weg, die Liebe fürs Leben kennenzulernen?
Ich habe meine Partnerin über das Internet kennenund lieben gelernt und unsere Partnerschaft hält nun seit zehn Jahren. Ich hatte damals als Witwer mit zwei kleinen Kindern keine einfache Möglichkeit, jemanden kennenzulernen. Früher hat man sich eben erst getroffen und dann geschrieben. Heute ist das eben umgekehrt. Es wird erst geschrieben und dann wird getroffen.
Wenden sich eher Frauen oder Männer an Sie, um Hilfe zu bekommen?
In der Regel merken Frauen früher, wenn es in der Partnerschaft nicht mehr stimmt. Wenn Männer anrufen, um einen Termin für eine Paartherapie auszumachen, ist es oft zu spät, weil sie zu lange den Kopf in den Sand gesteckt haben und dachten, das wird schon wieder.
Wie sollte man mit Geld in der Beziehung umgehen?
Die Finanzen sollten immer von einem «Finanzminister» überwacht werden, der natürlich wechselt. Das gemeinsame Geld kommt in einen Topf und man bestreitet damit die Alltagskosten. Trotzdem sollten beide ihr «Spassgeld» bekommen, über das jeder frei verfügen kann.
Was sind in Beziehungen die Hauptprobleme?
Kommunikationsprobleme. Wir verstehen uns nicht mehr und bekommen fast täglich Streit wegen Kleinigkeiten. Problematisch wird es auch, wenn der Appetit auf Sex zu unterschiedlich verteilt ist, das gilt übrigens für Männer und Frauen.
Wie sieht der Lösungsansatz für kriselnde Beziehungen aus?
Pflegen Sie eine gute Kommunikation und sorgen Sie für Ausgleich und Gegenseitigkeit in der Beziehung. Suchen Sie gemeinsame Sinnquellen und machen Sie Schluss mit dem Mythos der spontanen Sexualität und planen Sie einen gemeinsamen Liebesabend.
Ist geplante Liebe nicht eher ein Liebeskiller?
Bei vielen Paaren sinkt nach Monaten die anfängliche körperliche Begeisterung. Es wird vieles zur Normalität. Das kann mit so einem geplanten Abend wieder aufgefrischt werden, weil beide sich Zeit nehmen und miteinander Zeit verbringen wollen. Wie dieser Liebesabend endet, ist jedem ja selbst überlassen. Ich empfehle hierzu auch mein Spiel «Oh la la».
Wie kamen Sie auf die Idee, ein «Liebesspiel» für Erwachsene zu entwickeln?
Viele Paare einigen sich nach den ersten Monaten bei Liebe und Erotik auf einen kleinen Erlebnisspielraum. Obwohl Partner für «Oh-la-la-Wünsche» offen sind, wenn sie davon erfahren. Man wählt jeweils aus vielen Wunschkarten aus und lässt sich von den Antwortkarten des Partners überraschen. Meine Erfahrungen aus der Praxis zeigen mir, es funktioniert und wird gern gespielt. Wichtig ist generell, dass man zwar Scham und auch «Peinlichkeiten» zulässt, seine intimen Wünsche aber für sich behält.
Wird die Sexualität in der Partnerschaft über- oder unterschätzt? Wenn die Sexualität in einer Paarbeziehung funktioniert, macht sie nur etwa fünf Prozent aus, gibt es aber gerade wegen nicht gelebter Sexualität Probleme, wird die Thematik plötzlich als fünfundneunzig Prozent wahrgenommen.
Was sind für Sie weitere Grundsteine, die dem Paar in Sachen Beziehung helfen, diese stabil zu halten?
Es ist sehr wichtig, Verletzungen wieder gut zu machen und sich zu versöhnen. Man kann nämlich auch lernen, Krisen als Entwicklungschancen zu erkennen. Ich bin auch ein grosser Verfechter der Zeitinseln. Schaffen Sie Zeitinseln nur für sich und Ihren Partner. Tägliche, monatliche, jährliche Zeitinseln. Das ist in meiner Therapiearbeit eine wichtige Hausaufgabe, denn dadurch entsteht Intimität und das bedeutet seelische Nähe.
Was verstehen Sie unter Zeitinseln?
Zeit, die nur für den Partner ist. Tägliche Zeitinseln sollten fünfzehn Minuten dauern und einen definierten Schluss haben. Der Partner soll dem Gegenüber zuhören und nach der vereinbarten Zeit sagen, was er vom Gesagten wahrgenommen hat und umgekehrt. Das überschneidet sich nämlich nicht zwangsläufig. Diese Viertelstunde kann aber gut helfen, eine bessere Kommunikation zu haben. Das Gute daran ist, dass diese kurze definierte Zeitspanne sogar Männer zulassen.
Wie sieht eine jährliche Zeitinsel aus?
Paare sollten sich erlauben, eine Woche im Jahr ohne Kinder in den Urlaub zu fahren. Ausserdem ist es sinnvoll, gute soziale Netze aufzubauen und diese auch zu nutzen.
Haben Sie auch eine Idee, wenn es organisatorisch schwierig wird oder die Kinder «mit müssen»? Dann sollte man sich ein Gastkind mitnehmen. Einen Freund oder eine Freundin der eigenen Kinder. Somit haben beide Spielgefährten und das Gastkind ist der Situation noch überangepasst. Ausserdem kann man sein Kind auch einmal mit der Familie des Gastkindes mitreisen lassen. Oder haben Sie Lust, eine Woche lang am Boden zu sitzen und blonde Barbiehaare zu bürsten?
Wie sehr verändert ein Kind die Partnerschaft? Vier grosse Studien belegen, dass Paare am glücklichsten sind, wenn sie noch keine Kinder haben. In der Pubertät sind die Kurven am tiefsten. Aber ich kann Sie trösten, wenn die Kinder ausziehen, steigt die Ehezufriedenheit in allen Studien wieder an. Leider sind Eltern heute zu kinderorientiert. Dabei schadet es den Kindern nur selten, wenn die Eltern es lustig haben, auch ohne den Nachwuchs.
Funktioniert eine gute Beziehung auch ohne Treue? In unserem Kulturkreis gilt Treue als Bedingung für eine funktionierende Liebesbeziehung. Allerdings gehen zweiundfünfzig Prozent der Männer hie und da fremd, bei den Frauen sind es siebenundvierzig Prozent, Tendenz steigend. Das heisst, wir brauchen konstruktive Strategien, wie Paare mit solchen Beziehungsunfällen umgehen sollen. Übrigens gehen die wenigsten Paare auseinander wegen einer kurzen Affäre, sondern weil sie sich nichts mehr zu sagen haben.
Haben Paare, deren Beziehung einen Knacks hinsichtlich der Treue bekommen hat, überhaupt eine Chance, wieder gemeinsam glücklich zu werden?
Auch wenn es komisch klingt, ja, auf jeden Fall! Ist die Ehe grundsätzlich gefestigt, kann bei einer Krise der Status der Ehe ein zusätzlicher Pfeiler darstellen, der stabilisiert. Ich habe dazu auch ein Buch geschrieben: «Hallo, ich liebe Ihren Mann». Meiner Meinung nach sind achtzig Prozent aller Trennungen im Grunde unnötig.
Was wollen Sie mit diesem Buch sagen?
Der Titel ist ja recht provokant. Die Botschaft ist: Affären müssen nicht das Ende einer Beziehung bedeuten. Es soll neue Lösungsansätze für Betroffene aufzeigen. Das Hauptproblem ist ja, dass viele Suchende nicht den Namen auf dem Türschild wollen, sondern seelische Nähe.
Was sind die wichtigsten Schlagworte für eine gute Beziehung?
Ausgeglichenes Wechselspiel von Geben und Nehmen. Das Positive mehr sehen als das Negative. Freiräume schaffen, aber auch gemeinsame Paarinseln. Akzeptieren, dass es unlösbare Probleme gibt.